Polen-Newsletter 32/2018
vom 09.08.2018
Mitte 21 – Verein zur Förderung der Völkerverständigung und der Demokratie e.V.
crowdmedia.pl
Das Gesetz über das Oberste Gericht auf Eis gelegt. Das Oberste Gericht zieht einen überraschenden Trumpf aus dem Ärmel
PiS dachte, dass sie bereits die Kontrolle über alles hatte. Eine parlamentarische Mehrheit zusammen mit dem regierungstreuen Nationalen Richterrat garantierte der Partei eine vollständige Kontrolle über das Justizsystem. Man hoffte auf eine Entlassungswelle im Obersten Gericht, und dass die verhasste Małgorzata Gersdorf aufhören wird, ein Hindernis für die Regierung zu sein und in den Zwangsruhestand geschickt wird. Die Richter haben jedoch im Rahmen des geltenden Rechts einen Weg gefunden, sich einer so brutalen Form des Abbaus der Grundlagen der Staatsform zu widersetzen.
Das Oberste Gericht stellt fünf Rechtsfragen an den Europäischen Gerichtshof. Ziel ist es, die polnischen Rechtsvorschriften im Hinblick auf den Grundsatz der Unabhängigkeit der Justiz zu bewerten, die ein Teil des EU-Rechts ist, außerdem im Hinblick auf das EU-Verbot der Diskriminierung aufgrund des Alters .
Mit diesem klugen Schritt setzte das Oberste Gericht die Anwendung des Gesetzes über das Oberste Gericht in der von PiS geänderten Fassung aus, bis eine Antwort des Europäischen Gerichtshofes eingehen wird. Das ist ein großer Erfolg für die Justiz, der neue Möglichkeiten eröffnet, für die Unabhängigkeit der Justiz zu kämpfen. Er zwingt PiS, ihr wahres Gesicht auf der internationalen Bühne zu zeigen, wenn sie ihre Ziele um jeden Preis durchsetzen will.
https://crowdmedia.pl/ustawa-o-sn-zamrozona-sad-najwyzszy-wyciaga-zaskakujacy-as-z-rekawa/
oko.press.pl
Präsident: „Ich erkenne die Entscheidung des Obersten Gerichts nicht an.“
Juristen: „Duda erkennt das EU-Recht nicht an. Anarchie!“
Am Donnerstag, den 2. August 2018, gab das Oberste Gericht bekannt, dass er dem Gerichtshof der Europäischen Union fünf Fragen stellen wird zur Vorabentscheidung über Richter, die nach Vollendung ihres 65. Lebensjahres in den Ruhestand geschickt werden. Gleichzeitig stoppte das Oberste Gericht die Anwendung des PiS-Gesetzes über den Obersten Gericht. Das bedeutet, dass er die Entlassung der Richter gestoppt hat. Andrzej Duda reagierte fast sofort. Die Pressekonferenz des Obersten Gerichts fand um 15:00 Uhr statt. Bereits um ca. 18.00 Uhr wurde von der Kanzlei des Präsidenten der Republik Polen eine Erklärung abgegeben. Sie zeigt, dass das Staatsoberhaupt der Entscheidung des Obersten Gerichts nicht nachkommen wird und fordert andere Behörden auf, dies ebenfalls zu tun: „Nach Ansicht der Kanzlei hat die heutige Klage des Obersten Gerichts, die darin besteht, die Anwendung einiger Bestimmungen des Gesetzes über das Oberste Gericht auszusetzen, ohne eine angemessene Rechtsgrundlage stattgefunden und wirkt sich weder auf den Präsidenten der Republik Polen aus noch auf irgendein anderes Organ.“
Richter Michał Laskowski, Sprecher des Obersten Gerichts, sagte in einem Interview mit TVN24: „Das ist ein ganz normaler Vorgang. Vielleicht haben viele nicht gehört, dass wir Teil des europäischen Rechts sind.“
„Der Präsident der Republik Polen, ein promovierter Rechtsanwalt, hält das EU-Recht nicht für das in Polen geltende Recht und behaupten daher, das Oberste Gericht habe keine Grundlage für sein Handeln. Die Position der Kanzlei des Präsidenten, die die Entscheidung des Gerichts nicht anerkennt, ist ein weiterer Fall, in dem sich Politiker in Polen das Recht aneignen, die Entscheidung des Gerichts zu beurteilen, wie in der Vergangenheit im Falle des Urteils des Verfassungsgerichtes. Der Präsident soll diese Entscheidung umsetzen, nicht beurteilen. Er ist kein Gericht und hat die Pflicht, den Entscheidung des Gerichts nachzukommen. Was der Präsident der Republik Polen tut, ist Anarchie in ihrer reinsten Form“, schrieb in seinem Kommentar Prof. Marcin Matczak.
Die Kanzlei des Präsidenten erklärte, dass die Bestimmungen des Gesetzes über das Oberste Gericht „in Kraft sind und von allen eingehalten werden müssen“. „Das muss nicht unbedingt so sein”, sagt Dr. Taborowski, ein Experte für das europäische Recht. „Wenn das Urteil des Gerichts zeigt, dass die Bestimmungen gegen den Grundsatz des wirksamen gerichtlichen Schutzes verstoßen, kann dies bedeuten, dass alle bisher von den Behörden des Staates ergriffenen Maßnahmen ohne Rechtsgrundlage getroffen wurden. Daher dürfen diese Bestimmungen heute nicht mehr angewendet werden. Es ist unerheblich, wann das Urteil des EU-Gerichtshofes verkündet wird. Alles, was bisher geschehen ist (Pensionieren der Richter oder das Verfahren zur Abgabe einer Stellungnahme vor dem Nationalen Richterrat über Richter, die weiterhin im Obersten Gericht entscheiden wollen), kann sich als unangemessen erweisen. Daher ist es für das Oberste Gericht sinnvoll, diesbezüglich eine Schutzmaßnahme zu ergreifen.“
gazeta.pl
Dorn: Was immer Duda jetzt tut, wird schlecht für ihn sein. PiS ist nicht in der Lage, den Krieg gegen die Richter zu gewinnen
Es ist heiß. Der Präsident macht Urlaub in Jurata, die Abgeordneten haben frei. Zu dieser Zeit wurde eine erweiterte Zusammensetzung des Obersten Gerichts plötzlich einberufen und bat den Europäischen Gerichtshof um eine Vorabentscheidung über die Koordinierung der europäischen Systeme der sozialen Sicherheit. Es gibt keinen Urlaub in der Politik.
Die Fragen betrafen jedoch nicht den Inhalt des Falles, sondern die Zusammensetzung des Obersten Gerichts. Weil es so kam, dass es unter den sieben Richter zwei im Alter von über 65 Jahren gibt, die sich mit einer Rechtsfrage befassen müssen, aber nach dem neuen Gesetz über das Oberste Gericht nicht entscheiden dürfen. Die Vorabentscheidungsfragen sind deshalb gerechtfertigt, weil sie sich auf die folgenden Inhalte beziehen: Wenn das Oberste Gericht die Zusammensetzung mitten in dieser Rechtssache ändern würde, um dem neuen Gesetz zu entsprechen, wird sie dann den Grundsatz unabhängigen Gerichts beibehalten oder nicht?
Aber das Oberste Gericht ging noch weiter. Es griff auf einen einstweiligen Rechtsschutz zurück und berief sich dabei auf Art. 755 §1 der polnischen Zivilprozessordnung: „Sollte der Gegenstand der Sicherung nicht eine geldwerte Forderung sein, so kann das Gericht eine Sicherung nach freiem Ermessen auferlegen“. Also hat das Gericht die einschlägigen Bestimmungen des Gesetzes über das Oberste Gericht ausgesetzt, bis der Europäische Gerichtshof die Fragen beantwortet.
Die Frage ist, was Präsident Duda tun wird, denn er ist derjenige, der die Axt in der Hand hält, und alle vom Obersten Gericht suspendierten Bestimmungen seine möglichen Entscheidungen (die eine Gegenzeichnung des Premierministers erfordern) betreffen. Es handelt sich nämlich um die Entscheidungen über dreizehn Richter des Obersten Gerichts, die über 65 Jahre alt sind und sich bereit erklärt haben, ihr Amt weiter auszuüben. Fünf Personen gaben die Erklärungen in Übereinstimmung mit den Bestimmungen des Gesetzes über ärztliche Zeugnisse ab, sieben von ihnen taten es nicht, und einige von ihnen verwiesen direkt auf die Verfassung. Bereits Mitte Juli bewertete der Nationale Richterrat diese Erklärungen.
Hier kommt der Zeitfaktor ins Spiel. Obwohl mehr als zwei Wochen seit der Stellungnahme des Nationalen Richterrates vergangen sind, hat Andrzej Duda bis heute keine Entscheidung über die Fälle der Richter getroffen. Nach eigenem Gesetz hat er bis Mitte September Zeit dafür. Da das Oberste Gericht im Rahmen eines beschleunigten Verfahrens Fragen gestellt hat, werden wir, wenn der EuGH zustimmt, Mitte Oktober seine Antworten erhalten. Wenn Andrzej Duda bis Mitte September keine Entscheidung über die 65+ Richter treffen wird, wird er die weiße Flagge zeigen. Wenn er aber eine trifft, besonders eine ablehnende,
ist es sehr wahrscheinlich, dass der EuGH Einwände erhebt und im Einklang mit dem Antrag der Europäischen Kommission über die Unvereinbarkeit des Gesetzes zum Obersten Gericht entscheidet.
Dies ebnet den Weg für Klagen gegen Polen, sowohl vor dem Europäischen Gerichtshof als auch vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (im Zusammenhang mit den endgültigen Urteilen polnischer Gerichte in jedem Fall, auch in Zivil-, Familien- oder Handelssachen). Mit solchen Entwicklungen wird die Rechtssicherheit in Polen mit allen unerwünschten politischen, moralischen und wirtschaftlichen Folgen zerstört. Die politischen, rechtlichen und institutionellen Ressourcen, die der Europäischen Union im Konflikt um die Unabhängigkeit der Justiz zur Verfügung stehen, sind um ein Vielfaches größer als die, die PiS zur Verfügung hat. PiS kann den Krieg nicht gewinnen, aber leider findet er auf polnischem Boden statt.
oko.press.pl
Landes-Staatsanwalt fordert Ermittler auf, einen Beschluss des Obersten Gerichts zu missachten
Bogdan Święczkowski fordert die Staatsanwälte auf, einen wichtigen Beschluss des Obersten Gerichts nicht zu akzeptieren. Der Beschluss schränkt die Möglichkeiten der Strafverfolgung ein, illegal erworbene Beweismittel zu verwenden. So die Möglichkeit der illegalen Überwachung von Bürgern.
In der Praxis läuft es darauf hinaus, dass die Ermittler die Resolution missachten sollen und weiterhin die so genannte „Frucht des vergifteten Baumes“ verwenden.
In dem Beschluss beantwortete das Oberste Gericht eine Rechtsfrage des Gerichts von Poznań bezüglich der breiten Verwendung von Abhörgeräten. Es geht um Artikel 168b der Strafprozessordnung, der von PiS in dieser Legislaturperiode des Parlaments (auf Antrag des Justizministeriums) angenommen wurde.
Diese Bestimmung gibt den Staatsanwälten das Recht, in großem Umfang Abhörmaßnahmen zu ergreifen. Die Ermittler können aufgezeichnete Gespräche nicht nur zur Verfolgung von Straftaten verwenden, bei denen das Gericht dem Abhören zugestimmt hat, sondern auch für andere Fälle (wenn es anlässlich des Abhörens nebenbei Gespräche gibt, die Beweise für andere Straftaten sein können). Mit der Verabschiedung neuer Vorschriften wollte PiS, dass illegal erlangte Beweismittel in Fällen, die alle von Amts wegen verfolgten Straftaten betreffen, verwendet werden. Und ob man sie verwenden wird oder nicht, sollten Staatsanwälte selbst entscheiden.
Aber das Oberste Gericht hat in seiner Entschließung vom Juni dieses Jahres die Rechte der Staatsanwälte auf Lauschangriffe eingeschränkt. Es war der Auffassung, dass Beweismittel, die „zufällig“ für andere Straftaten erfasst wurden, nur für die in Artikel 19 des Strafgesetzbuches beschriebenen Fälle verwendet werden können. Dieser Artikel listet in einem geschlossenen Verzeichnis die schwersten Straftaten auf, für welche die Polizei mit Zustimmung des Gerichts Lauschangriffe durchführen kann.
Die Resolution gefällt dem Justizministerium nicht und, wie sich herausstellt, auch nicht dem Landes-Staatsanwalt Bogdan Święczkowski. In seinem Schreiben an die Staatsanwälte schreibt er, dass Artikel 168b weiterhin gelten sollte, wie von der Partei Recht und Gerechtigkeit angenommen. So sollten sie immer noch die so genannte „Frucht des vergifteten Baumes“ verwenden, ohne auf den Beschluss des Obersten Gerichts zu achten. Und wenn die Gerichte solchen Beweisen nicht zustimmen wollen (unter Bezugnahme auf einen Beschluss des Obersten Gerichts), sollen sich die Ermittler auf den Artikel 168a des Strafprozessrechts stützen, die von den Gerichten respektiert werden sollen.
Święczkowski weist an, seine Position allen Staatsanwälten zur „bedingungsloser Ausführung“ weiterzugeben.
https://oko.press/prokurator-krajowy-wzywa-sledczych-do-lekcewazenia-uchwaly-sadu-najwyzszego/
newsweek.pl
Urteil über Ziobro. Die Führung der PiS überlegt, wie man den Justizminister los wird.
Der 20. Juli 2018 war ein Tag des Pyrrhus-Sieges für Zbigniew Ziobro, den Justizminister und Generalstaatsanwalt in Personalunion. Der Sejm hat weitere Gesetzesänderungen zum Höchsten Gericht, der Staatsanwaltschaft und dem Landesrichterrat angenommen. Doch am selben Tag trat der Oppositionspolitiker Stanisław Gawłowski (PO) auf, der wegen Korruptionsvorwürfe drei Monate in Untersuchungshaft verbringen musste. Er warf PiS und Ziobro vor politische Justiz auszuüben, mit dem Ziel Oppositionspolitiker durch Vorwürfe und Prozesse zu schwächen und einzuschüchtern – ähnlich wie es Putin in Russland gelang.
Genau das geben einige PiS-Politiker hinter den Kulissen zu – Es sei Kaczyńskis ursprünglicher Plan gewesen, Ziobro mit so viel Macht auszustatten und die Ermittler und Gerichte ihm gefügig zu machen, um die Opposition zu zerstören. Während dies Ziobro kaum gelang, und die Reaktion vielmehr Massenproteste auf den Straßen und die komplette Isolation Polen in Europa das Ergebnis war, fürchten mehrere PiS-Politiker nun Ziobros Macht. Denn es scheint, als würde er seine Befugnisse und belastende Ermittlungsergebnisse nun auch gegen die eigenen Leute verwenden wollen. Also überlegt die PiS-Führungsriege, wie man Ziobro halt gebieten oder gar abberufen könnte.
oko.press.pl
Politische Polizei. Die Operation „Rekonesans“ – Hunderte Geheimdienstler verfolgten die Demonstranten
OKO.press gelang zu polizeilichen Dokumenten die bezeugen, wie im Sommer 2017 die Dienste hunderte Mitarbeiter als beauftragten, die Aktionen und das Verhalten der Demonstranten geheim zu verfolgen und darüber zu berichten. Es handelte sich um die landesweiten Proteste gegen die Gesetzesänderungen zur Gerichtsgesetzgebung.
Für die Aktion wurden tausende Polizisten eingesetzt, darunter Geheimpolizisten, die ansonsten für die Verfolgung der gefährlichsten Verbrecher zuständig waren. Sie berichteten über die kleinsten Bewegungen der Demonstranten, vor allem der außerparlamentarischen Opposition und der Jugend.
Die Aktion wurde von Rafał Kubicki befohlen, dem damaligen – und bald abberufenen – Chef der warschauer Polizei befohlen. Laut „Super Express“ hoffte er zum Chef der gesamten Polizei zu werden und prahlte damit „politische Unterstützung zu haben“.
Beobachtet wurden vor allem führende Aktivisten von ObywateleRP und OSA (u.a. Paweł Kasprzak, Wojciech Kinasiewicz, Maciej Bajkowski), die Solidarność-Legenden Lech Wałesa und Władysław Frasyniuk sowie Oppositionspolitiker wie Ryszard Petru und Katarzyna Lubnauer.
Zitat der Woche
„Duda und andere PiS-Funktionäre, die erklärten, dass das Urteil des Obersten Gerichts keine Rechtskraft habe, legalisierten in der Praxis den zivilen Ungehorsam zu hundert Prozent. Wenn [Präsident] Duda oder [Justizminister] Ziobro das Recht haben zu entscheiden, welches Recht gilt, dann können auch Kowalski und Nowak dies tun.”
Tomasz Lis, Chefredakteur Newsweek Polska, 02.08.18 auf Twitter |
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