Gleichheit, Politik, Religion und Feminismus

 

POLiTISCH 11

Goście:            Magdalena Środa
Organizacja:   Mitte 21 e.V., Urszula Ptak, DJV Berlin
Moderacja:     Urszula Ptak
Termin:           18.01.2018                 Miejsce: DJV Berlin, Alte Jakobstraße 79/80, 10179 Berlin

 

Der vorliegende Text ist weder eine Transkription des  Gesagten noch von den Interviewpartnerinnen autorisiert. Es ist ein Gedächtnisprotokoll, daher nicht wörtlich und nicht lückenlos. Verantwortliche: Dorota Cygan  

Frauen machen 51% der polnischen Gesellschaft aus. Warum dann sind sie so unterrepräsentiert, wenn es um Regierungsgeschäfte geht? Wollen sie nicht regieren?

Eine arithmetisch errechnete Frauenquote wäre tatsächlich aus vielerlei Gründen sinnvoll, vor allem aber sehr effektiv, denn Männer trinken mehr, sind narzisstisch und werden öfters krank.  Von gleichmäßiger Verteilung sind wir aber noch weit entfernt. Andererseits geben hundert Jahre Frauenrechte dennoch Anlass zum Optimismus, wenn man etwa auf unser Publikum schaut: Vor hundert Jahren hätte keine Frau ohne ihren Mann hierher kommen können. Bleiben wir daher optimistisch. Man muss einsehen, dass kein erkämpftes Recht für immer erkämpft wird – im Moment haben wir es mit einem Backlash, einem Rückschlag seitens der Konservativen  zu tun.  Für die arithmetische Quote haben Norwegerinnen das Argument angeführt, dass  mit einem wachsenden Anteil der Frauen (von etwa über 40%) sich auch die im Parlament behandelten Themen verändern würden. Eine größere Rolle würden dann womöglich solchen Themen wie Kinderbetreuung oder Bildung zukommen  anstelle von „machtzentrierter Thematik”. Von der Frage nach den Verhältnissen im Parlament ganz abgesehen müssen Frauen ihr Bewusstsein stärken, sonst kann die jetzige Entwicklung für sie gefährlich sein.

100 Jahre sind eine lange Zeit, um dieses Bewusstsein herauszubilden und zu stärken. Warum aber wollen die Frauen selbst nicht an der Politik partizipieren? 

Dass sie es nicht wollen, stimmt nicht. Wir beobachten eine sehr große Aktivität, etwa bei der Wahlbeteiligung. Sie engagieren sich sehr – und dann aber werden die  Wahllisten von den Männern zusammengestellt, Frauen sind dabei eher eine Zierde, mehr aber auch nicht.  Auch wird mit ihren Fehlern anders umgegangen: Jetzt gerade wird Katarzyna Lubnauer angegriffen, nicht aber der ehemalige Parteivorsitzende der Nowoczesna Ryszard Petru. Frauen verstehen aber allmählich immer mehr von politischen Strategien: Langsam werden neue, unverbrauchte politische Persönlichkeiten aufgebaut wie etwa Barbara Nowacka, sie muss allerdings den richtigen Zeitpunkt abwarten und darf sich nicht zu schnell  als politische Kraft auspowern. Generell stehen Frauen in der Politik oft im Hintergrund, haben oft Vize-Posten inne, nur ganz selten besetzen sie den Chefsessel. Übrigens sind auch die Gehälter nicht gleich – aber damit habe ich mich schon früher als Gleichstellungsministerin beschäftigt.

Polnische Frauen sind besonders aktiv. Warum gibt es in Polen keinen so radikalen Feminismus wie in Deutschland? 

Die sechs, sieben oder neun radikale Feministinnen gibt es schon. Dass die Masse es nicht ist, hat historische und gesellschaftliche Gründe. Der radikale Feminismus bildete sich dort heraus, wo eine starke Mittelklasse existierte. In Polen fehlte die Mittelklasse immer, Polen war ein Agrarland und die Frauen hatten immer eine konkrete gesellschaftliche Rolle zu spielen. Sie wurden nicht ausgeschlossen, sondern in den Arbeitsprozess integriert – auf dem Acker und anderswo, gern im Dienste der Nation, während Frauen in Westeuropa auf der Sinnsuche waren und sich selbst zu verwirklichen suchten. In den zweihundert  Jahren, als Polen kein eigenständiger Staat war, standen andere Ziele im Vordergrund, vor allem die Unabhängigkeit Polens. Das Frauenwahlrecht verdanken wir übrigens nicht dem Marschall Piłsudski, sondern seiner Frau, die im Untergrund tätig war und u.a. Kampfschriften austrug. Polinnen waren sehr aktiv, es gab keinen Grund, noch mehr in die öffentliche Sphäre zu dringen. Und eine Rolle spielten immer auch religiöse Zusammenhänge, etwa der Marienkult, der das gesellschaftliche Klima nicht polarisierte, sondern mediatisierte.  Es gibt sicherlich eine Aufwertung der Frau auf der symbolischen Ebene – denken wir etwa an den Handkuss – aber sie bedeutet noch lange keine materielle Gleichstellung, etwa durch gleiche Gehälter. Übrigens wird es begrüßt, dass den Frauen immer die Tür aufgehalten wird. Schön und gut, dies kann aber auch als Zeichen der Macht gedeutet werden. Wenn ich an Frauen bei der SolidarnośćBewegung der 1980er Jahre  denke, sehe ich ein Missverhältnis zwischen ihrer großen Zahl im aktiven Untergrund und der Tatsache, dass nur wenige Frauen auf den Fotos aus der damaligen Zeit zu sehen sind. Als wir vor zehn Jahren Barbara Labuda nach diesem Missverhältnis fragten, winkte sie nur ab: Das sei doch damals unwichtig gewesen. Bei Frauen muss noch viel Bewusstseinsarbeit  geleistet werden. So sind sie sozialisiert, so sind die kulturellen Normen und die Akkulturation, die ihnen immer die Rolle in der zweiten Reihe zuordnet. Den Frauen muss man eigentlich den Narzismus anerziehen – oder die Politik verändern. Wohlgemerkt wird Katarzyna Lubnauer vornehmlich von Frauen angegriffen.

Was halten Sie von der neuesten Abstimmung im Sejm über den bürgerlichen Gesetzentwurf zur Abtreibung? Warum hat die Opposition durch ihre Haltung diesen Entwurf untergehen lassen?

Das spiegelt den Bewusstseinszustand der Abgeordneten wider. Hinzu kommt noch, dass im Januar landesweit die Pfarrer den Gemeindemitgliedern einen Besuch zu Hause abstatten – und  diesmal wohl die Abgeordneten „diszipliniert” haben. Ich glaube, dass die katholischen Pfarrer allmählich das Christentum in Polen töten. Wir verhalten uns so, als würden wir der Kirche ständig Schulden abzahlen müssen – wie einen Kredit in Schweizer Franken, wobei  aber die Verschuldung nicht weniger wird, sondern wächst. Wir haben mittlerweile mit dem Aufkommen einer nationalkatholischen Religion zu tun: In den Kirchen ist die PIS allgegenwärtig. Indessen müsste die Religion aus dem öffentlichen Leben eliminiert werden. Diese Art von Religiosität hat mit dem Christentum nichts zu tun, sie ist mit ideologischen Inhalten eines Parteilagers versetzt. Und diese Parteireligion hält einen Teil der  Abgeordneten in ihrer Macht, manche geben indirekt zu, dass die Pfarrer ihre Abstimmung über diesen Gesetzentwurf beeinflusst hatten. Gleichzeitig beobachten wir einen dramatischen Niveauverfall im Religionsunterricht in den Schulen: Mittlerweile hat er das  Hauptschulniveau erreicht. Anders als in Deutschland sind religiöse Themen in den Medien stark überrepräsentiert: Es ist eine Omnipräsenz der religiösen Inhalte zu beobachten, beinahe wie im Islam. Mit dem laizistischen Europa sind diese Zustände nicht zu vergleichen – denkt man etwa an den Grad der Irrationalität: Es werden Wunderheiler und Exorzisten herangezogen für die Behandlung von psychischen Störungen. Wir müssen dringend unser Wertungssystem überdenken – und zurückrudern. Sonst  werden bald europäische Reisebüros eine polnische Besonderheit anbieten: „Buchen Sie eine spannende Reise nach Polen in frühmittelalterliche Verhältnisse!” Es ist im Grunde auch eine Frage des Machtverhältnisses: Je mehr Macht jemandem zugestanden wird, desto weniger dialogwillig ist er. Und umgekehrt: Weniger Macht lädt zum Dialog ein. Die Kirche in Polen hat zu viel Macht, und die Tendenz ist steigend. Eine Selbstbeschränkung kommt nicht von allein, das können wir vergeblich hoffen. Die Steuerzahler müssen STOP sagen. Das geht uns alle etwas an. Und es ist nicht allein die Schuld der Kirche: Wir haben der Kirche so viel Macht zugestanden. Die Kirche vorneweg und die Frauen hinten an, so sehen die Verhältnisse aus. Und die Irrationalität ist längst in normalen Familien eingekehrt – für eine gute Abiturnote in Mathe will man beten, für Abiturienten werden Wallfahrten organisiert etc. Und die PIS spielt alle gesellschaftlichen Kräfte  meisterlich gegeneinander aus. Es ist soweit, dass Kaczynski wohl der einzige ist, der der Kirche Stirn bieten könnte, alle anderen Akteure des öffentlichen Lebens kuschen. Die polnische Kirche ist zur Sekte geworden und die Bevölkerung steckt in ihren Fängen. Es ist natürlich nicht so, dass das Christentum gänzlich aus der Kirche verschwunden ist – nein, aber es ist nur schwach vernehmbar,  als vereinzelte  Stimmen weniger Geistlichen wie die Pater Lemański, Wiśniewski oder Boniecki. Die Kirche wird sich allerdings von allein nicht reformieren – wozu denn auch?

Warum gehen Frauen immer noch zur Kirche? 

Wir haben mit einer ritualisierten Religiosität zu tun. Man geht zur Kirche, weil „es sich so gehört”.  Es ist ein leerer, inhaltsloser Konformismus. Es geht natürlich auch anders, aber es wird leider zu wenig gewagt. Zwei Phänomene sind also zunehmend ein Problem: Der allgegenwärtige Konformismus der Öffentlichkeit und die Billigung des Irrationalen, etwa der Exorzismen durch die Kirche.

Bei den Aufmärschen der Rechten sind Frauen übrigens  auffallend gut repräsentiert … 

Dies ist eine gezielte Politik der PIS, und Frauen machen aufgrund der bestehenden sozialen Verhältnisse mit. Wer versklavt ist, hat keine Sicht von außen, er gesteht sich selbst die Freiheit nicht zu. Nur eine Außenperspektive kann eine grundsätzlich andere sein. In Polen wird der Feminismus negativ assoziiert, ganz anders als im Ausland. Bei uns hat eine Frau die Rolle des „Anderen”. Eine Feministin kann – nach einer gut erprobten Manier – zum Gegner erklärt werden, so wie Schwule, Lesben oder das von den Rechten verhasste „Gender”.  Bożena Chołuj und Małgorzata Fuszara versuchten die Gender-Studien zu popularisieren – mit dem Effekt, dass auf einem  Kirchturm irgendwo auf dem Lande ein Transparent aufgehängt wurde: „Mutter Gottes, beschütze uns vor dem Gender!” Für solche Denkfiguren, die  bestimmten Gruppen gezielt ein negatives Image zuschreiben, um eine Gefährdung zu signalisieren,  prägte Zygmunt Baumann die Formel „Dangerisierung „. Sie findet in immer neuen Bereichen Anwendung.

Wie wird es mit dem Abtreibungsgesetz weitergehen?

Das heute noch geltende Abtreibungsgesetz wird womöglich vom Verfassungsgericht als rechtswidrig erklärt. Es wird zur Folge haben, dass die Pränataldiagnostik, die der Kirche ein Dorn im Auge ist,  nicht mehr staatlich finanziert und die In-vitro-Fertilisation ganz gestoppt wird, obwohl Polen beträchtliche Erfolge auf diesem Gebiet hat.

Und wird aus dem gesellschaftlichen Protest  eine neue politische Kraft entstehen?

Sicherlich entstehen neue politische Gruppierungen, aber wahrscheinlich werden sie sich nicht zu früh aufstellen. Ein wichtiger politischer Faktor werden die Kommunalwahlen sein und es muss dafür gesorgt werden, dass keine Unregelmäßigkeiten auftreten. Das ist sicherlich eine Hoffnung. Von den Wahlergebnissen hängt vieles ab.

Polexit – ist eine solche Entwicklung wahrscheinlich?

Die Erhebungen zeigen, dass über 80% der Polen die EU gut finden. Die Europäer betrachten diese politische Entwicklung in Polen aber mit wachsender Distanz. Mittlerweile werde ich auf den Konferenzen im Ausland wie jemand „aus einem seltsamen, wilden Land” angesehen. Es ist unangenehm. Ich erinnere mich, dass Zbigniew Bujak vor dem EU-Beitritt Polens gefragt wurde, was Polen im europäischen Kontext einbringen wird. Seine Antwort war: den Wahnsinn. Polexit ist aber deshalb nicht wahrscheinlich, weil er sehr aufwendig und kostspielig ist. Polen wird eher seine Rolle einbüßen und höchstens noch auf der Konsultationsebene der EU agieren. Polens Stimme wird  bei Entscheidungsprozessen nicht viel wiegen. Und in der dumpfen Atmosphäre der Angst und Unfreiheit werden viele vielleicht das Land verlassen wollen, was ungünstig ist, weil mittlerweile die Fachkräfte fehlen. Das Gerücht, dass Pässe vielleicht wieder bei den Passbehörden aufbewahrt werden,  macht langsam die Runde. Aber es gibt auch einen Anlass zum Optimismus: Als ich am Tag des schwarzen Protestes der Frauen zu der Demo eilte und zu spät zu kommen befürchtete („ohne mich kann es ja nicht losgehen… !”), blieb ich unterwegs stutzig stehen:  Der Anblick, diese Massen haben mich überwältigt, ich konnte kaum nach vorne durch, so voll war es. Die jüngere Generation hat die Führung übernommen, und das ist gut so. In der Frauenrechtsproblematik spiegelt sich die ganze Gesellschaft wie in einer Linse.

Die Hassposts gegen Frauen – wie erklären Sie sich diese?

Wir haben hier weitgehend mit der Werteproblematik zu tun. In der Solidarność-Bewegung 1980 handelte es sich um gemeinsames Werteempfinden, es konnten sich soziale und  auch emotionale Bindungen  herausbilden. Die verliehen den agierenden Frauen eine ungeheure Kraft, und das weil 1980 immer noch die kollektive Erinnerung an die dramatischen Ereignisse von 1956, 1976 etc. sehr stark gewesen ist. Frauen, die sich bei  der Solidarność engagierten, haben aber keine gemeinsame, nur den Frauen als Gruppe geltende Erinnerung, es fehlen gemeinsame Ereignisse, die einen festen Zusammenhalt garantieren würden. Zur Zeit der polnischen Teilungen fanden in den Jahren 1889-1917 einige Dutzend geheime Vollversammlungen der im Untergrund tätigen Frauen statt – dies war ein Machtfaktor, der eine feste, konkrete Basis gab für die Verhandlungen um das Frauenwahlrecht, – Verhandlungen, die über Maria  Piłsudska mit ihrem Ehemann, Marschall Piłsudski geführt wurden, und zwar erfolgreich, wie man weiß. Was Frauen also brauchen, ist eine gemeinsame kollektive Erinnerung an etwas, was sie zusammenhält. Und es stimmt nicht, dass Frauen per se nicht solidarisch sind miteinander. Małgorzata Fuszera hat in ihrer Forschung mit dem falschen Mythos aufgeräumt, dass Frauen nicht für Frauen stimmen. Und ob sie es tun! Die soziale Bindung zwischen den Frauen muss aber gepflegt werden, da müssen wir Zeit und Energie investieren. Aber diese Bewusstseinsarbeit muss wirklich geleistet werden, anders geht es nicht.

Wie sind Sie selbst zur Feministin geworden? 

Als ich im Kreißsaal lag. Da wurde ich wie ein Gegenstand behandelt. Nach der Entbindung dämmerte ich völlig erschöpft vor mich hin und hörte plötzlich eine Flüsterstimme: „Schlaf nicht, sonst wirst du sterben…”. Und als ich dies später meinen Freundinnen erzählte, hörte ich von ihnen ähnliche Geschichten, und es wurde uns klar, dass unendlich viele Frauen betroffen waren. Dann beschlossen wir,  diese privaten Geschichten  zu einem öffentlichen Thema zu machen: So entstand die Artikelreihe in der Gazeta Wyborcza „Entbinden wie ein Mensch”. Und ansonsten gab es im Alltag  viele kleine Anlässe, die Wut aufzubauen, wenn wir etwa immer mit „Herr Professor” angeschrieben wurden oder im Beruflichen von Männern nicht ernst genommen wurden. Dann, eines Tages bei der Kosmetikerin, kam uns, einer Gruppe von befreundeten Frauen, die Idee zu einem ersten Frauenkongress. Wir versprachen uns aber eigentlich keinen großen Erfolg. Völlig unerwartet für uns versammelten sich in der Kongresshalle  3,5 Tausend Teilnehmerinnen – Frauen mit sehr unterschiedlichen Hintergründen, keine Promis.  Es gab tolle Podiumsdiskussionen, viel Energie und regen Austausch. Denn das wichtigste passiert auf der untersten Ebene,  zwischen den jeweiligen Kongressen, und gar nicht in den großen Städten, sondern in der Provinz, in der Peripherie des Hauptgeschehens. Oft höre ich von der Politikverdrossenheit. Die antiken Griechen sagten, die Politik vermenschlicht, denn sie stützt sich auf Worte, auf Persuasion, ist Kunst der Überredung, des Argumentierens. Die Revitalisierung der Politik tut heute Not.  Der Frauenkongress wird Parteien und politische Initiativen  unterstützen. Der nächste findet am 16./17. Juni in Łódź statt. Und am 10. November in Gdańsk. Ein Frauenkongress in Berlin wäre auch eine gute Sache. Die Statistik über die Partizipation der Frauen in der Politik ist in Deutschland und Polen vergleichbar: Im Bundestag beträgt sie um die 30,7% und in Polen etwa 27%. Wir müssen allmählich unser eigenes Narrativ entwickeln, und zwar jetzt schon.

Im Anschluss an das Gespräch wurden Fragen aus dem Publikum beantwortet. Es ging dabei u.a. darum, dass die Kirche in Polen oftmals als Einzige überhaupt ein  Freizeitangebot für die Bevölkerung hat und auch als Einzige der Ansprechpartner in allen Lebenslagen ist. So ist der große Zulauf zu den von der Kirche organisierten Wallfahrten zu verstehen, auch unter jungen Menschen. Auch die Zellen der Rechten sind in der Provinz sehr aktiv und bieten den Jugendlichen gesponserte Aktivitäten, die gern in Anspruch genommen werden. Die Alternative dazu – etwa  Kulturzentren – sind dabei keine wirkliche Alternative, weil sie in Kirchenhand sind.  

Die Frage nach den Veränderungen im Hochschulbereich ließ erahnen, wie weit die Veränderungen des gesellschaftlichen Klimas bereits fortgeschritten sind.  Die Universität wird braun: Studentische Vertretungen weigern sich, gendergerechte  Bezeichnungen zu gebrauchen, Ethikvorlesungen werden von rechten Kampftruppen gestört und Parolen wie „wenn du schwarz bist, kannst du kein Pole sein” sind keine Ausnahme mehr. 

Auf die Frage, warum Frauen nicht aggressiver auftreten, damit ihre Stimme in der  Öffentlichkeit deutlich vernehmbar ist,  hieß es, anders als in Frankreich, wo die Rechtstaatlichkeit und damit auch Verbote von allen Bürgern respektiert werden, legen die Polen das Recht ein wenig nach ihrem eigenen Gutdünken aus. Dies hat zur Folge, dass Verbote leicht umgangen werden und das Rechtssystem  nicht generell, aber oft im Einzelnen in Frage gestellt wird. Polen hat eine 200-jährige Tradition in der Umgehung von Rechtsnormen. In der Regel glaubt der durchschnittliche Pole, er wird es schon hinkriegen, sich dem zu entziehen, was von ihm verlangt wird. 

Im Ausblick auf die kommende Zeit hieß es abschließend, man müsse auf den Wortgebrauch achten, keine polarisierende Sprache benutzen,  die Schulbildung mehr auf selbstständiges Denken ausrichten, die bürgerliche Gesellschaft stärken, die politische Bildung ausbauen und praxisnah orientieren,  mit Bildungsangeboten außerhalb des staatlichen Diskurses Außenstehende und unbeteiligte Gruppierungen ansprechen, die mündliche Fähigkeit zur kultivierten Auseinandersetzung durch Diskussion und Argumentation trainieren und – nicht zuletzt – selbst am gesellschaftlichen Diskurs partizipieren sowie das Wort für Demokratie und Menschenrechte ergreifen.